Über den Wolken

Logbucheintrag 10.11. über dem Atlantik

Ode an die Naivität

Zu diesem Zeitpunkt befinde ich mich irgendwo zwischen den Kontinenten und der Zeit. 1374 Kilometer vor Miami, bei -49°C und einer Reisegeschwindigkeit von 793km/h haben wir in der letzten halben Stunde das Bermudadreieck links liegen lassen. Der nächste Ort auf dem Festland wäre Washington D.C.
Die zunehmende Technisierung und Digitalisierung verlangt einen hohen Zoll den die Seele bezahlt. In dieser Zeitreisekapsel fliegen wir der Sonne so schnell hinterher, dass mein Tag heute sechs Stunden länger ist als üblich.. Auch wenn es mein ganzes Leben bereits diese Möglichkeit gegeben hat, und ich auch jung schon den ersten Langstreckenflug hinter mich gebracht habe, werde ich mich wohl nie daran gewöhnen dass man von dieser Raum- und Zeitkapsel names Flugzeug an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wieder ausgespuckt wird. Das Überqueren des „Teichs“ macht mir dieses Schauspiel noch einmal viel deutlicher. In meinem geistigen Bewusstsein bin ich meinem Bruder in Esslingen noch viel näher, als mein Körper es ist.
Angesichts des Unortes an dem ich mich befinde scheint es mir Verschwendung zu sein diese Zeit dem Vergangenen zu widmen, genauso wie dem Zukünftigen. Dieser Flug LH462 mit hunderten Menschen an Bord könnte jedem einzelnen das Geschenk machen wirklich vollständig in dem Moment anzukommen und wahrzunehmen was gerade geschieht. Meine Uhr zeigt 19:32, in Miami werden wir um 15:30 angekommen sein. Die  Realität 2025  ist, dass 98% der Fenster geschlossen sind weil wir alle lieber unserem technischen Konsum fröhnen und mittlerweile sogar WLAN auf 10.000m Höhe kein Problem mehr ist. Ich selbst habe eine ganze Staffel von einer Serie gesehen, – einfach nur weil sie da war – bevor ich mich besonnen habe, dass mir das Schreiben dieser Zeilen auch noch am Herzen liegt. Sechs von den zehn Stunden habe ich mich willenlos der Serie ergeben. Die Zeit zwischen der Zeit, die mir bleibt ist eine gute Stunde.

Liebe Momo. Was machen wir mit den grauen Herren die in unseren Herzen wohnen?

Jetzt sitze ich nicht mehr vor der Glotze, aber immer noch in einer Maschine, die zu schnell ist für meine Seele. 

Woher soll ich die Zeit nehmen, mich darauf vorzubereiten einen Kontinent für mich neu zu entdecken?

Ich habe nicht mehrere Wochen, die Kolumbus brauchte um Amerika zu erreichen. Ich habe 10 Stunden minus 6 Stunden, die ich mir freiwillig selbst genommen habe. – Die Stewardess bringt mein Abendessen – Es ist mitten am Tag.

Die Digitalisierung und Technisierung nimmt uns unsere Kreativität und wir geben sie gerne her. ich habe wenig Neugier und viele Vorurteile über die USA. Medien berichten Dinge die für mich sinnlich nicht überprüfbar sind, wenn ich in Deutschland bin. Sie nagen aber an meiner Neugier – am liebsten so lange bis nichts mehr davon übrig ist – Der nach Amerika ist so kurz geworden, dass es viel zu schnell geht um die Neugier reifen zu lassen. Einfach mal Wochenlang den eigenen Gedanken nachhängen in der Annäherung an einen Ort.

Heutzutage ist Neugier kein natürlicher Zustand mehr. Es ist eine Entscheidung die hart verteidigt werden muss. Nach innen und nach außen. Der innere Schweinehund, die Freunde, die Familie, die Neugier mit Naivität gleichsetzen, stehen dem eigenen Willen gegenüber und prüfen diesen. sich für neugier zu entscheiden heißt sich auch für Naivität zu entscheiden.

Ist es dann aber noch Naivität wenn sie, durch die klare Sicht eines ungetrübten Blicks,

auf einer bewussten Willensentscheidung beruht?

Picassos viel bemühter Satz, – er habe ein ganzes Leben gebraucht um wieder malen zu können wie ein Kind – ist ein solches Plädoyer für aktive Naivität. Naivität heißt unvoreingenommen zu sein und sich zu interessieren. Naivität fragt. Sie lässt sich das Fragen nicht von eingelernten Schuldsystemen ausreden. 

– „Müsste ich das wissen?“ – „Wenn ich das Frage, dann denken die bestimmt ich bin dumm!“ – 

Naivität interessiert sich für das Leben und die Welt; Schuldsysteme interessieren sich für das eigene Davonkommen, den eigenen Vorteil, den Schutz vor gelernten, oft fiktiven, Gefahren.

Demokratie und die Menschlichkeit, unsere Mitwelt und wir selbst, sind auf aktive Naivität angewiesen. Zuwendung statt Abwendung. Das Interesse, das am Nichtwissen erwacht, ist überhaupt die Voraussetzung für alle Bilder die wir uns über die Welt gemacht haben; über Wissenschaft, Kunst, Gesundheit, Wirtschaft, Ökologie und Soziales. 

Aus der Naivität geht jede Errungenschaft der Welt hervor. Egal ob als förderlich oder hinderlich empfunden.

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